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Interkulturalität und Entwicklung

Wechselwirkungen zwischen staatlichen Institutionen und Mapuche

Noelia Carrasco H., Patricio Riquelme L. und Álvaro Ugeño N.

Mit dieser Arbeit möchten wir unser Verständnis über die Wechselwirkung zwischen den Denkweisen, die in der Ausführung von Entwicklungsprogrammen Anwendung finden, vertiefen. Im besonderen die Sichtweise der Mapuche-Kultur und die westliche Denkweise - sowohl die wissenschaftliche als auch die allgemein geläufige - die durch die jeweiligen institutionellen Sichtweisen repräsentiert werden, im besonderen in der Vorstellung, der Projektion und der Erwartungen von Entwicklung. Dafür ist es notwendig zu überprüfen, bis zu welchem Punkt wir eigentlich das so oft in Vorträgen gesagte und wiederholte und in Aktivitäten vermeintlich angewendete gelernt haben. Durch die ethnographische Beschreibung institutioneller Aktivitäten sind wir auf eine widersprüchliche und verwirrende Realität gestoßen, ebenso wie auf eine berechtigte Hinterfragung von "interkulturell", mit dessen Etikett zahllose Gesundheits-, Erziehungs- und Entwicklungsprogramme betitelt werden. Wie können wir dazu beitragen, Kultur in eine technisch aneignungsfähige Arbeitsvariable zu verwandeln? Können wir überhaupt dazu beisteuern, diesen Zustand zu verbessern, den viele Arbeitsgruppen bereits kritisiert haben?

Gescheiterte Entwicklung

Untersucht man den Kontext interethnischen und interkulturellen Zusammenlebens auf alltäglicher und institutioneller Ebene sowie im Lichte der Fachwissenschaften, so ist es bis zum derzeitigen Punkt möglich, bestimmte Vorbedingungen über Sachverhalte als bereits gegeben anzusehen. Für den sozialen, sowie den regierungsinstitutionellen und nicht-regierungsinstitutionellen Kontext ist die Anerkennung und das Begreifen der Komplexität der kulturellen Vielfalt unseres Landes eine komplizierte Angelegenheit. Auch wenn die kulturelle Vielfalt Schritt für Schritt zu einem festem Bestandteil in Diskursen und institutionellen Einrichtungen unserer Gesellschaft wurde, so gibt es heute keine Erfahrungen mit interkulturellen Phänomenen, die auf gleichberechtigten Beziehungen basieren und in denen Faktoren wie politische und kulturelle Ordnung oder Identität Berücksichtigung finden. Nichtsdestotrotz verbreiten sich die Voraussetzungen zur Anerkennung kultureller Vielfalt und es scheint so, dass, wenn auch noch nicht Teil praktisch gewonnener Erfahrung, sie zumindest Teil des geistigen Rüstzeugs geworden sind.

Aus dem vorangehenden abgeleitet, erkennt man ebenfalls eine Vielfalt von Konzepten, die sich in unterschiedlichen thematischen Bereichen des soziokulturellen Lebens, das durch unsere Gesellschaft geschaffen wurde, gegenseitig beeinflussen. So hat das öffentliche Gesundheitssystem bereits interkulturelle Gesundheit in seinen Fachjargon aufgenommen und sie durch Programme in die Tat umgesetzt, die eine Art ärztliche Betreuung fördern, bei der die Realität kultureller Vielfalt Berücksichtigung findet. Das selbe geschähe im Bereich der Erziehung durch die Einführung der Programme zweisprachiger interkultureller Erziehung.

Jedoch hat der Bereich von Entwicklung, der gemäß der reduktionistischen Herangehensweise rein ökonomisch definiert ist, bis jetzt keine Form gefunden, diese neue Vision regionaler Realität zu verwirklichen. Vielmehr waren es Nicht-Regierungs-Organisationen, die sich damit auseinandergesetzt haben und die in ihren Strukturen Raum geschaffen und Strategien entwickelt haben, um interethnischer Realität einen Sinn zu geben. In diesem Kontext wurde schließlich immer häufiger die Absicht vorgebracht, geeignete Perspektiven in lokale Kontexte mit einzubeziehen, wodurch die Lehren konventioneller Einstellung hinterfragt wurden, die traditionell im Bereich der Entwicklung ihre Anwendung fanden und welche kulturelle Vielfalt nicht anerkennen. So wären also in einem zweiten Ansatz Annahmen monokultureller Sichtweisen zu entfernen und die Wissenschaften zur Aktualisierung methodischer Vorgehensweisen und thematischer und kontextbezogener Schulung anzuhalten. Was die Einbeziehung von Vorschlägen, die von der Mapuche-Kultur ausgehen impliziert. Im Bereich der Entwicklung hat man versucht, dies anhand von zahllosen Erfahrungen zu untersuchen, wie etwa Seminare und Vorträge. Diese Instanzen, die der Verdeutlichung dienen, und tiefgründige Erfahrungen verkörpern, stellen heute einen empirischen Indikator dieser Realität dar. Nichtsdestoweniger besitzt die soziale und politische Auffassungskapazität Grenzen, die verhindert haben, dass Vorschläge zu einer umfassenden Entwicklungsperspektive für Mapuche entwickelt werden. Stattdessen gibt es nur die Problemanzeige, dass die Mapuche, mit Berufung auf ihre Rechte, eigene Forderungen stellen. Doch werden diese vom Staat gewährten Rechte gleichzeitig wieder durch den Staat begrenzt.

Wir wagen zu behaupten, dass Projekte, deren Entwicklungsziele und -indikatoren die Maßstäbe offizieller Entwicklung erfüllen, nicht notwendigerweise auch ihre vollständige Funktion im Sinne der Verbindung kulturell-verschiedener Entwicklungsstile erfüllen. Und dies auch dann nicht, wenn sie mit neuen Konzeptualisierungen und Aspirationen im Bereich von Umwelt und Organisation flexibler werden. Der Bericht über das von dem CES durchgeführten Projektes "Verwaltung der natürlichen Rohstoffe der Mapuche" im Sektor Rüpükura - einer Gemeinde von Nueva Imperial in der IX. Region - kam schließlich zu einem, mit der vorangegangenen Interpretation einhergehenden Ergebnis: das Modell zur nachhaltigen Nutzung des lokalen Ökosystems verlangt eine konstante Bemühung und eine konkrete Öffnung der staatlichen Entwicklungsinstitutionen für andere Denkweisen, hier der dortigen Mapuche, über die Nutzen des Ökosystems. Denn auch wenn man dieses Projekt in sich versteht als eine Entwicklung, die verschiedene soziale, physische, wirtschaftliche Dimensionen der Realität unter sich vereinigt, wobei diese Bereiche auch integriert werden sollen, so stellt es sicherlich ohne Miteinbeziehung des lokalen Wissens keine erfolgsversprechende und vollkommen mit den lokalen Erwartungen übereinstimmende Alternative dar.

Dasselbe Projekt, das oben erwähnt wurde, machte es sich zum Hauptanliegen, "die Perspektive und Präsenz der Mapuche in der Planung der lokalen Entwicklung einzubeziehen, um Gesundheitsverhältnisse und Lebensstandard der Familien in Rüpükura zu verbessern, durch eine bessere Nutzung der natürlichen Ressourcen, soziale Organisation und kommerzielle Nutzung der Landwirtschaft sowie Subsistenzlandwirtschaft". Die beabsichtigte Einsetzung kognitiver und praktischer Bemühungen - sowohl durch die lokale Organisation als auch durch das Arbeitsteam - präsentierte nach einem Jahr intensiver Arbeit Erkenntnisse, die etwa durch folgende Hypothese zusammengefasst werden können: Unterschiedliche lokale Identitäten tauchen als Antwort auf zahllose Interventionen, die von diversen Entwicklungsinstitutionen den Mapuche der Region gezwungenermaßen auferlegt wurden, auf. Tatsächlich gibt es eine sich gegenseitig beeinflussende Beziehung zwischen Identität und Entwicklungsstil. Wenn der Entwicklungsstil nicht ausreichend überdacht wird und seinen bestimmenden Charakter behält, kann die kulturelle und ethnische Identität beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen werden. Dies ist nicht der Fall, wenn er sich gegenüber den Verbesserungsvorschlägen der Begünstigte des Entwicklungs-Projekts als aufgeschlossen und sich ihren Überlegungen als anpassungsfähig erweist. Es muss eine Partizipation der Betroffen in die Praxis umgesetzt werden, die eine Zusammenkunft der unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen in Planung und in der Durchführung des Entwicklungsprojektes ermöglicht.

Wenden wir die eben aufgeführten Kriterien von einer multidimensionalen Perspektive ausgehend an, so stellen wir fest, dass in bei den aktuellen Entwicklungsprogrammen in Mapuche-Gebieten weiterhin folgende Prämissen erfüllt werden:

  • Instrumentalisierung der Mapuche und Beibehaltung einer pragmatischen und assistentialistischen Entwicklungspolitik

  • Spaltung der lokalen sozialen Organisation

  • Nicht Berücksichtigung der internen soziokulturellen Vielschichtigkeit der Bevölkerung in den Entwürfen von Entwicklungsstrategien

  • Klare Ausgrenzung kritischer oder wenig funktionaler Sektoren der Mapuche

  • Von außen kontrollierte Selbstverwaltung der Mapuche, innerhalb derer Konzessionen oder "Genehmigungen" für die Durchführung eigener Programme erteilt werden. Über die Gewährung von Projektgeldern wird die Abhängigkeit aufrecht erhalten.

Entwicklung aus Mapuche-Sicht

Es ist klar erkennbar, dass für die Welt der Mapuche der Begriff Entwicklung in sich selbst schon eine Herausforderung darstellt, der man sich stellen muss. Einige haben sich diesbezüglich in intrakultureller Richtung, d.h. aus der eigenen kulturellen Perspektive der Mapuche heraus, auf die Suche nach eigenen Prinzipien gemacht, die es ihnen erlauben, effektive Gegenargumente in der Diskussion aufzustellen und Entscheidungen zu treffen. Dem fügen sie eine interethnische Sichtweise bei und bedienen sich der historischen Umstände des Kontaktes und der vergangenen politischen und gesetzlichen Tatsachen, die ihnen der chilenische Staat zugesprochen hat. Es handelt sich hierbei um Mapuche-Intellektuelle, lonkos und andere Funktionsträger, die sich selbst in der zweidimensionalen Perspektive des "inter" und des "intra" befindlich sehen. Sie wetteifern um die komplexe aber notwendige Möglichkeit, sich vorarbeiten und Kompetenz erringen zu können sowohl innerhalb ihrer eigenen als auch in den Räumen der anderen Kultur, die ihnen diese Räume anbietet bzw. sie ihnen auferlegt.

In technischen Termini bezieht sich ein "kulturelles Universum" in erster Linie auf das Verständnis von Begriffen und Symbolen einer Kultur, wobei wiederum Raum gelassen werden muss für die Einflüsse, die dieses Verständnis von Begriffen und Symbolen auf dem Feld materieller Strategien erzeugen. Das kulturelle Universum der Mapuche erkennt eigene Auffassungen, wie die des che y tremün an, als Grundbasis für das Verständnis einer Vision der Entwicklung, die diesem kulturellen Universum genauso angehört. Diese intrakulturelle Suche definiert auf diese Weise ihre Basis, und zwar auf demselben Wege, den die Mapuche selbst als denjenigen sehen, auf dem sie eine vollkommen eigenständige Entwicklung festigen könnten.

Zugleich stellt die Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse ein Ziel höchster Priorität dar. Alle Organisationen stimmen darin überein, dass diese ein dringliches Anliegen darstellen. In einigen Fällen, wie zum Beispiel beim Consejo General de Caciques de Chiloé (Allgemeiner Rat der Kaziken von Chiloé), erscheint eine enge und unverzichtbare Verbindung zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, dem Territorium der Mapuche-Huilliche, den Indianerrechten, der traditionellen und funktionellen Organisation und der Erhaltung der Umwelt. Sie versuchen, Arbeitsprogramme zu entwickeln und durchzuführen, die das Leben der Huilliche nach ihrer eigenen Vorstellung beschützen, ohne dabei auf die Nutzung technischer, rechtlicher und kommunikativer Unterstützung der weißen Welt zu verzichten.

Neoliberalismus - eine Ethnografie des Kontextes

In den 60er Jahren wurde in unserem Staat eine Etappe gesellschaftlicher Modernisierung eingeläutet, vor allem durch Organisationen wie CEPAL (UN-Wirtschaftskommision für Lateinamerika und die Karibik). Man entwarf einen neue Vorgehensweise bezüglich der Entwicklung benachteiligter Bevölkerungsteile, trotz ernsthafter struktureller Defizite, wie die Agrarstrukturen des Großgrundbesitztums und die Existenz von ausländischem Kapital in strategisch wichtigen Sektoren der Wirtschaft. Dieser Kontext verlangte indirekt, sich auch der indigenen Problematik zu widmen, was schließlich zu einer Aufhebung des Gegensatzpaares Tradition - Modernität führte. Diese Entwicklung ist der Akzeptanz zu verdanken, wonach die indigene Bevölkerung in die Politik der nationalen Entwicklung integriert werden sollte. In diesem Sinne müssen Staat und öffentliche Institutionen als Protagonisten für die Integration indigener Entwicklung betrachtet werden. Mit dem Beginn dieser Entwicklung wurde die indigene Bevölkerung innerhalb des Wirtschaftsbereiches der ländlichen Bevölkerung, oder vielmehr als arme Bauern, erfasst. Dies implizierte notwendigerweise die Aberkennung ihrer Besonderheiten, trug aber wiederum zur Homogenisierung der Lösungen dieser Problematik durch den Staatsapparat bei. Auf diese Weise wurden Aktionsabschnitte geschaffen, in denen soziale und wirtschaftliche Modernisierung durch die Integration in Produktion und Konsum ermöglicht wurden.

Da es den Staaten Lateinamerikas Anfang der 80er Jahre nicht möglich war, ihre externen Schulden zu begleichen, mussten sie sich an internationale Finanzorganisationen wenden, um neue Kredite aufzunehmen. Sowohl die Weltbank, als auch der IWF (Internationaler Währungsfond) knüpften ihre Hilfe an die Einhaltung einer neoliberalen Politik, was strukturelle Anpassung genannt wurde. In Übereinstimmung mit dieser Politik und der Analyse der Gründe der Wirtschaftskrise sicherte das internationale Bankwesen eine Wiederaufnahme der Kredite unter bestimmten Konditionen zu. Jedoch kam Chile diesem Modell zuvor indem die Diktatur eine Schockpolitik anwendete, um die Inflation zu bekämpfen, die seit 1973 angestiegen war. Sowohl auf nationaler als auch auf lateinamerikanischer Ebene lenkten die politischen Kräfte ihre Aufmerksamkeit darauf, makroökonomische Ungleichgewichte auszugleichen und das Wachstum durch die Stimulierung des Angebotes wiederanzuregen. Die erste Phase dieser Politik bestand in der Verminderung der Binnennachfrage, was schließlich Produktionsstrukturen veränderte und es ermöglichte, das Angebot zu erhöhen. Eine Verminderung der Nachfrage setzte eine Beschneidung in der öffentlichen Politik voraus, eine Kürzung der Gehälter und eine Erhöhung der Zinsen, um das interne Kreditvolumen zu senken. Die künstliche Hebung des Angebotes ging schließlich einher mit einem Ausbau der Exporte und einer Abwertung des Wechselkurses, um Devisen ins Land zu bringen. Außerdem wurden die Preise liberalisiert, sowie Auflagen und Zölle aufgehoben.

Innerhalb des lateinamerikanischen Staates richtet sich die Beschaffenheit der Einkommensverteilung und Sozialpolitik weder nach Nachfrage noch nach Verstand, sondern nach makroökonomisch definierten Variabeln. Nach dieser Ausrichtung wurde das Modell der Diktatur nach dem Ende des Pinochet-Regimes mit wenigen Änderungen an die Concertación vererbt. Von politischem Standpunkt aus gesehen haben die Übergangsregierungen in Lateinamerika eine Reihe von Charakteristika übernommen, die einen modernen Staat ausmachen sollten. In diese Auseinandersetzung fließt die Vorstellung eines dezentralisierten, effizienten, produktiven Staates ein, der sich von seinen traditionellen agrarischen Wurzeln weit entfernt hat, und der auf eine Modernität abzielt, die auf städtische Entwicklung baut und in der die unterschiedlichen Identitäten miteinander verschmelzen. Die Regierungen der vergangenen Jahre haben sich dafür entschieden, sich vom Bild staatlicher Verwaltung zu entfernen, so zum Beispiel in Chile, wo Regierung und rechte Opposition nach und nach der Vorstellung eines Staates zugestimmt haben, der die wirtschaftlichen Aktivitäten beaufsichtigt und gleichzeitig seine sozialen Verpflichtungen in den Zusammenhalt des Systems einfließen lässt. Das heißt, ein erfolgreiches Modells dieser Art sichert größeren sozialen Rückhalt durch Beschäftigungsmöglichkeiten, indem dem Unternehmer die Aufgabe anvertraut wird, das Land zu steuern und zu Wohlstand und somit auch zu sozialer Sicherheit zu verhelfen.

Vom administrativen Standpunkt aus gesehen deuten die Bemühungen der Regierung zur Modernisierung auf einen kleinen Staatsapparat mit exekutivem Charakter. In Chile werden Initiativen für effizientere Umstrukturierung öffentlicher Verwaltung prämiert. Jedoch ist der administrative Staatsapparat trotz dieser Bemühungen auch heute weiterhin komplex und von hohem bürokratischen Aufwand geprägt.

Es gibt folglich verschiedene Ansichten in der Wahrnehmung der Prioritäten von Investitionen und Entwicklung. Das heißt die Produkte, die von der Entwicklungshilfe angeboten werden, richten sich nicht nach den Anliegen und Ansprüchen der Bevölkerung. Im Rahmen der Anpassung an die Kreditrichtlinien der internationalen Banken kann die Festlegung von Entwicklungsprogrammen durch die Regierungen und nachfolgend durch Nicht-Regierungs-Organisationen, die von sich selbst sagen, die Zivilgesellschaft zu repräsentieren, in zwei Ebenen eingeteilt werden. Eine Ebene der Homogenisierung, die Ergebnis der globalen Anspruches der Maßnahmen ist, und eine der Heterogenität, die sich in einer Phase der Anpassung dieser Global-Programme an die lokalen und regionalen Kontexte befindet.

In der Region der Araucanía hatte des Phänomen der neomodernen Entwicklung eine Reihe von Besonderheiten. Diese sind zum einen bestimmt durch die strukturpolitischen Gegebenheiten des chilenischen Staates und zum anderen durch die historische und geographische Grundlage der Region. Diese Gegebenheiten, die der Entwicklung in den Mapuche-Gemeinden der Region einen besonderen Charakter geben, gehören ebenso zu diesen besonderen Faktoren. Insofern weist die Ethnographie durch ihre Arbeit in unterschiedlichen Zusammenhängen, die durch Konflikte, Auferlegung von Entwicklungsstufen, private Interventionen, Folgen von Agrarreformen und Gegenreformen, gezeichnet sind, auf diese Bereiche hin.

Anthropologie und Entwicklung

Die Ausdifferenzierung von Methoden bezüglich der Thematik der Entwicklung der Mapuche, die von Institutionen und diversen Arbeitsgruppen angewendet werden, erlaubt es uns, zwei zentrale Punkte des Sachverhaltes zu erfassen: Zum einen die institutionellen Ansichten und zum anderen die Hintergrundannahmen, die zu entsprechenden Methoden der Projektbegleitung, -durchführung oder Kooperationsformen führen.

Um präzise definieren zu können, was wir unter Entwicklungsmethodik verstehen, ist es zuerst notwendig, die Hintergrundannahmen aufzuführen. Mit anderen Worten das Bewusstsein, das uns dazu antreibt, unsere Arbeit mit den Mapuche, deren Familien und Organisationen der Region zu untersuchen und weiter zu verfolgen. Dem Kolumbianer Arturo Escobar zufolge erlauben die theoretischen Entwicklungen in der Anthropologie eine Unterscheidung in zwei Annäherungsweisen an die Realität von Entwicklung, die durch unterschiedliche Auffassungen von Kultur voneinander getrennt sind. Ein erstes Modell der "Anthropologie für die Entwicklung" öffnete den Raum für die Eingliederung von Experten, die befähigt waren, Verbindungen zwischen Kultur und Entwicklung herzustellen. Umgesetzt wurde diese Modell wegen der Neuorientierung der Entwicklungs-Institutionen, da das vorhergehende Modell der "von oben auferlegte Interventionen, welche aus massiven Kapitalspritzen und technologischer Unterstützung bestanden"(1), gescheitert war. Damit verbündete sich diese erste anthropologische Annäherung an Entwicklung mit dem vorherrschenden Modell, das somit neue Ansatzpunkte zur Verbesserung seiner Möglichkeiten erhielt. Die Annäherung an eine "Anthropologie der Entwicklung" entsprang dagegen einer allgemeinen erkenntnistheoretischen Krise in den Kulturwissenschaften. Im Kontext dieser erkenntnistheoretischen Krise wurde der Anthropologe schließlich als aktiver Bestandteil der Gesellschaft, in der er lebt und die ihn umgibt, definiert. Dieser Ansatz überträgt die Frage von Entwicklung auf die soziale Ordnung und bringt die westliche Konstruktion von Entwicklung aus dem Gleichgewicht.

Beide Annäherungen sehen Entwicklung als eine unvermeidbare Sache, als einen unausweichlichen Tatbestand an. Nichtsdestotrotz beweist uns die gegenwärtige Ethnographie, selbst wenn wir behaupten, uns in der überkommenen Sichtweise der Anthropologie der Entwicklung zu befinden, dass beide Stile Erfolg haben und zeigt die damit verbundene Möglichkeit auf, beide interpretative Modelle zu nutzen, um auch andere Arten der Annäherung an die Realität der Entwicklung unserer Region umzusetzen. Wir beziehen uns hier auf die Modelle, die durch Institutionen und andere Wissenschaften, welche mehr oder wenig überlegt oder unüberlegt in diesem Bereich handeln, gefördert werden. Diesbezüglich unterstützen wir folgende Hypothese: In multikulturellen Kontexten erlaubt uns nur eine Relativierung westlicher Entwicklungskonzepte, interkulturelle Strategien anwenden zu können. Die Fähigkeit der Wissenschaften zur Reflexion ihrer kulturellen und wissenschaftlichen Vorstellungen stellt den ersten Schritt zur Schaffung interethnischer Vorgehensweisen dar, die der Realität politisch angepasst sind. Ein bestimmtes Ausmaß an Erkenntnis und Wissen über die Rechtslage lösen von sich allein jedoch nicht die Forderungen und Konflikte, mit denen Mapuche-Sektoren ihren Widerstand formulieren, die mittlerweile in der Artikulation und Systematisierung ihrer Bemühungen, um eine Art selbst definierte Entwicklung, Fortschritte gemacht haben. Nur die Verbindung der Bereiche institutionelles Wissen, Recht und Politik kann die Erwartungen aufrechterhalten, dass eine interkulturelle Entwicklung in die Tat umgesetzt werden kann. Nicht vorhandene wissenschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten, unflexible Gesetze und unnachgiebige Institutionen sind auch weiterhin die größten Hindernisse, die unsere Gesellschaft schweigend der Entwicklung der Mapuche in den Weg legt.

Plädoyer für interkulturelles Verstehen

In Übereinstimmung mit unserer ursprünglichen Fragestellung, gehen wir davon aus, dass es keine universell geeignete Vorgehensweise gibt, mit Ausnahme derer, die einen Dialog vorschlägt, der Raum schafft für die im voraus als unterschiedlich erachteten Inhalte und Stile. Und zwar im richtigen Augenblick und nicht erst dann, wenn man Aktivitäten bereits in Gang gebracht hat. Methoden zu erneuern setzt voraus, deren Absichten in Lösungsvorschläge und deren Umsetzung zu übertragen. Diejenigen, die soziokulturelle Dimensionen in ihre Arbeit nicht mit einschließen, können sie umso weniger in ihre nachfolgenden Tätigkeiten einbeziehen. Wie dieser Schritt zu vollziehen ist, ist auch weiterhin die Frage. Die Anthropologie bietet die Möglichkeit an, Vorschläge in gemeinsamen Bereichen miteinander zu verschmelzen, in denen Verantwortung von denjenigen übernommen werden können, die die Vorschläge einbringen. In der Praxis bedeutet dies eine komplexe Herausforderung an Wissenschaften und Verfahren, die bis heute ohne größere Bedenken angewendet wurden. Es setzt ein Umdenken von der Interpretation des soziokulturellen Lebens in eine Perspektive voraus, die hinter das Offensichtliche blickt, und fähig ist, scheinbar widersprüchliche Symbole und Verhaltensweisen zu ergründen. Eine Perspektive, deren Antrieb im Finden von Vereinbarungen liegt, und die vor allem fähig ist, den wahren Einfluss ihrer Präsenz und ihre wechselwirkende Rolle zu erkennen.

Heutzutage bieten sich uns eine Fülle von Strategien zur Anwendung in interkultureller Arbeit an. Teilnehmende, begleitend kooperierende Methoden, Möglichkeiten der Selbstbestimmung und zahlreiche andere, die unsere methodologische Vielfalt ergänzen. Von welchem Standpunkt ausgehend benutzen wir sie? Von unserer politischen, rechtlichen und modellhaften Sichtweise einer Realität, die uns als die einzig mögliche erscheint? Oder nutzen wir diese Strategien, um Diversität in Generationen von geschaffenen Räume zu übertragen, deren Nutzen bis heute nicht klar ist, oder aus Konkurrenzdenken um eine unvorhersagbare Entwicklung unserer Indikatoren?

Wir sind nicht mehr imstande, eine therapeutische Anthropologie vorzubringen, die gescheiterten institutionellen Programmen Lösungen bietet. Das Aufkommen einer "Anthropologie für die Entwicklung" in den letzten Jahren stellt heute ein Stigma für uns dar, das uns herausfordert, mit dem wir uns nicht abfinden werden. Eine Antwort muss aus der Erarbeitung eines theoretischen Programms bestehen, das wiederum ausreichend breit und präzise formuliert ist, um die Realität als für alle gleichwertig komplex erklären und verstehen zu können. Und um zu erklären und zu verstehen, dass unsere Hilfe nicht behelfsmäßig sondern regenerativ für die Wirklichkeit sein will. Wir versuchen die Anthropologie der Entwicklung zu überwinden, um sie zu verbessern, denn auch wenn diese das warum verstehen kann, so besitzt sie doch keine adäquate Antwort bezüglich technischer Vorgehensweisen.

Wir schließen mit einer zurückblickenden und selbstkritischen Sichtweise, von den umgesetzten Aktivitäten bis zu den philosophischen Hintergründen, die uns über Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, die uns eine Verständigung erlauben, aufklären. Diese methodologische Hinterfragung erlaubt uns wiederum, Zeit zu sparen. Sie erlaubt uns, fruchtlose Anstrengungen zu vermindern, wie zum Beispiel irgendjemandem Rechte und Handlungsraum zu bewilligen, in einem willkürlich, künstlich geschaffenen Kontext, ohne auf eine reale Basis des Zusammenlebens zu achten, die mit der Heterogenität und der Realität verbunden ist, die unaufhörlich Sachlichkeit mit Unsachlichkeit verwechselt.


(1) Escobar, A., "Antropología y Desarollo": www.unesco.org/issj/rics154/escobarspa.html

Noelia Carrasco H., Patricio Riquelme L. und Álvaro Ugeño N. sind wissenschaftliche Mitarbeiter des Programms sozialer und kultureller Entwicklung des "Centro de Estudios Socioculturales" (Zentrums soziokultureller Studien) der Universität Católica in Temuco, Chile. Das vollständige, spanische Referat inkl. Literaturangaben kann bei der Redaktion angefordert werden.

Gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Vortrages "Aplicando Antropología al desarrollo. Perspectivas culturales e institucionales en interacción.", III. Congreso Chileno de Antropología 2001.

Übersetzung: Björn Seyl

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